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Wir essen immer mehr, aber auch immer ungesünder. Das Überangebot an Lebensmitteln erschwert es uns, die Balance zwischen genussvollem und gesundem Essen zu finden.

Essen, um zu überleben. Bei unseren Vorfahren hat dieser Satz unmittelbar zugetroffen: Die Verfügbarkeit von Esswaren war regional und saisonal bedingt – oft war sie ungenügend, dann hungerten die Menschen. Die Ernährung der Städter war mit Brei, Brot, Gemüse, Früchten, Beeren, Fischen, Geflügel, Fleisch, Milchprodukte und Wein als Hauptbestandteile relativ abwechslungsreich. Auf dem Land war der Speiseplan jedoch eintöniger und die Menge häufig nicht ausreichend, besonders an Proteinen und Vitaminen mangelte es. Viele der Lebensmittel, die wir heute täglich verzehren, waren damals noch unbekannt: Kartoffeln, Mais, Tomaten, grüne Bohnen, Truthahn, Reis, Kakao, Kaffee, Schwarztee und Zucker sind die wichtigsten.
Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert wurde die Versorgung mit Nahrungsmitteln verbessert. «Nach dem Ersten Weltkrieg begann in Westeuropa das Zeitalter des modernen Massenkonsums», schreibt der Historiker Martin R. Schärer im «Handbuch der schweizerischen Volkskultur».

Genuss steht an erster stelle

Der Bedarf an Grundnahrungsmitteln ist längst abgedeckt. Wir leben in einer Überflussgesellschaft – fast alles ist jederzeit erhältlich. Die Produzenten werben mit raffinierten Mitteln um unsere Gunst: Das Knäckebrot, das beim Anbeissen so appetitlich in unseren Ohren knuspert, werden wir wieder kaufen – denn wir essen auch mit dem Gehör. Dem Schokolademousse, das mit Früchten und Rahm garniert ist, können wir nicht widerstehen, weil es für das Auge so schön hergerichtet ist. Die Industrie kennt alle Tricks, «designt» Chips und Kekse im Tonstudio und motzt unsere Lebensmittel optisch auf.
Schärer stellt in seiner Studie fest, dass unser Ernährungsverhalten mittlerweile nicht mehr mit dem Nährwert einer Speise, sondern mit deren Genuss- und Sozialwert zusammenhängt. «Der Genusswert steht an oberster Stelle – ermöglicht durch die grosse Kaufkraft.» Gleichzeitig haben wir noch nie so stark auf die Qualität der Lebensmittel und ihre Wirkung auf unsere Gesundheit geachtet wie heute. Das führt zu einer paradoxen Situation: «Das Wissen um die Ernährung ist so gross wie noch nie und doch ernährten sich die Menschen in der industrialisierten Welt noch nie so schlecht», erklärt Schärer. Dieses Verhalten bleibt auch in unserem Land nicht ohne Folgen. Nach Schätzungen des Bundesamts für Gesundheit (BAG) entfallen mittlerweile rund 30 Prozent der gesamten Kosten im Gesundheitswesen auf ernährungsbedingte Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und verschiedene degenerative Erkrankungen.

Verhalten überdenken
Unter diesen Umständen sind wir herausgefordert, unsere persönliche Esskultur zu überdenken und unsere Gesundheitsvorsorge in die eigenen Hände zu nehmen. Hilfestellung bietet dabei die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung (SGE): Sie hat sich zum Ziel gesetzt, die Bevölkerung über alle Fragen der gesunden Ernährung aufzuklären. Die Partnerorganisation des BAG stellt in der Lebensmittelpyramide ihr Modell einer ausgewogenen Mischkost dar. Alle Lebensmittel sind erlaubt, aber in vernünftigem Mass (siehe auch Interview Seite 6). So erhält der Körper ausreichend Energie sowie alle lebensnotwendigen Nähr- und Schutzstoffe wie Eiweisse, Kohlenhydrate und Balaststoffe.
Das Fundament der Pyramide bilden Lebensmittel, die häufig gegessen werden sollen und dürfen. Je mehr die Pyramide sich zuspitzt, desto vorsichtiger soll mit dem Konsum der Lebensmittel umgegangen werden. Die Lebensmittelpyramide gilt für Erwachsene in mittlerem Alter. Die Konstitution von Kindern und älteren Menschen ist anders und verlangt eine Anpassung der Ernährung an den Körper.
Wie das bei Senioren aussehen müsste, war für Fachkreise lange Zeit nicht von Interesse. «Unterernährung bei älteren Menschen ist in der Medizin erst seit etwa 15 Jahren ein Thema», weiss Professor Walter O. Seiler, Chefarzt der Akutgeriatrieabteilung am Universitätsspital Basel. Es gebe heute nur einige wenige Geriater, welche das Thema ernst nehmen. Ältere Menschen essen oft zu wenig, weil sie weniger Hunger und Appetit haben. Das ist laut Seiler bis zu einem gewissen Grad normal, da sich Senioren weniger bewegen und darum weniger Energie verbrauchen.
Hinsichtlich Unterernährung besonders gefährdet sind ältere Menschen, die an einer Krankheit leiden: «Als erstes vermindert sich der Appetit», so der Professor. Dies führt dazu, dass die Betroffenen immer kleinere Portionen essen. «Bestehen die dann noch aus Nahrungsmitteln mit kleiner Nährstoffdichte – Früchte oder Gemüse – sinkt die Kalorien¬zahl unter 1000», erklärt Seiler. Dies sei zwar eine gute Abmage¬rungs¬kur, decke aber den Bedarf an Vitaminen, Spurenelementen, Mineralstoffen und Eiweiss nicht mehr ab. «Wenn das niemand bemerkt, kommt es innert Wochen zum Absturz in die Malnutrition.» Älteren Menschen werde zudem häufig eingeschärft, wegen des Cholesterins kein Fleisch, keine Eier oder Käse zu essen. Oft fehlten aber unseren Senioren gerade Nährstoffe wie Eisen, Eiweiss, Vitamin B12 und Zink, die besonders häufig in Fleisch vorhanden sind. Angehörige und Fachpersonen, wie Ärzte oder Pflegepersonal sollten sich deshalb regelmässig nach dem Appetit und den Essgewohnheiten älterer Menschen erkundigen, rät Seiler. «So können Massnahmen gegen den schleichenden Absturz in die Malnutrition ergriffen werden.»

Fünf am Tag

Auch auf die Ernährungsgewohnheiten der Kleinen muss besonders geachtet werden. Ausgewogenheit und Regel¬mässigkeit sind beim Nachwuchs besonders wichtig, da sich der Körper im Wachstum befindet und auf die regelmässige Zufuhr aller Nährstoffe angewiesen ist. Dass Kinder genügend Milchprodukte zu sich nehmen, soll laut dem deutschen Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte speziell beachtet werden. «Milchprodukte sind hervorragende Quellen für hochwertiges Eiweiss und den Knochenaufbaustoff Calcium», schreibt der Verband in einer Informationsbroschüre. Als wichtige Eisenquellen sind auch Fleisch und Wurstwaren gern gesehen auf dem Kinderspeiseplan. Von einer streng vegetarischen Ernährungsweise rät der Verband zwar ab, moderater Fleischverzicht lässt er aber durchgehen: «Die Ernährung ohne Fleisch – aber mit Milchprodukten und Eiern – ist prinzipiell möglich.»
«Fünf am Tag» – was für die Kids gilt, kann den Erwachsenen nicht schaden: Dieser Slogan soll uns dazu animieren, genügend Gemüse und Früchte zu essen. Mindestens fünf Portionen pro Tag. Die Krebsliga Schweiz hat mit Unterstützung der Stiftung Gesundheitsförderung und des BAG diese Kampagne ins Leben gerufen. «Studien haben gezeigt, dass die Ernährung einen grossen Einfluss auf die Entstehung, beziehungsweise Verhinderung von Krebserkrankungen hat», schreibt die Organisation auf der Kampagnen-Homepage www.5amtag.ch.

Slow Food

In der Theorie wissen die meisten Menschen, dass sie sich besser ernähren müssten – der Alltag macht ihnen aber oft einen Strich durch die Rechnung. Denn bleibt für die Mittagspause bloss eine halbe Stunde Zeit, muss ein Sandwich oder ein Hamburger den Hunger stillen. Auch nach der Arbeit ist der Terminkalender häufig so voll, dass es zum Kochen nicht reicht. Schnell werden in der Mikrowelle Fertiggerichte zubereitet. Bei solchen Gewohnheiten verliert das Essen automatisch an Bedeutung. Dagegen wehrt sich Jürg Ewald: «Wir verteidigen das Recht auf Genuss.» Er ist Mitglied der «Slow-Food»-Bewegung und Präsident einer Baselbieter Gruppe, die sich «Convivum Baselbiet» nennt.
Als Gegenpol zur Fast-Food-Bewegung wurde Slow-Food 1986 in Rom gegründet. Aus der spontanen Idee hat sich in der Zwischenzeit eine breite Bewegung mit 80'000 Mitgliedern etabliert, die in 50 Ländern aktiv ist. «Wir achten darauf, dass unser Essen nach den drei Prinzipien Regionalität, Saisonalität und politische Korrektheit zubereitet ist», erklärt Ewald. Slow-Food-Mitglieder ziehen Gerichte vor, die selbst zubereitet sind und nehmen sich Zeit zum Kochen. An speziellen Ausstellungen werden zudem Nischen- und Kleinstprodukte vorgestellt und unterstützt. Ausserdem sorgt Slow-Food dafür, dass die Vielfalt der Lebensmittel nicht ausstirbt: Der Erhalt von alten Pflanzenarten und Tierrassen wird – wie es auch die Stiftung Pro Specie Rara tut – besonders gefördert. «Ohne Vielfalt ist Genuss nicht möglich», ist Ewald überzeugt.

Mc Donald’s zieht mit
Vielfalt und Ausgewogenheit sind Schlagwörter, die man heute in Zusammenhang mit gesunder Ernährung oft hört. So oft, dass sogar der Fast-Food-Konzern McDonald’s, dessen Produkte zu unausgewogenem Essen verleiten können, auf den Zug der Ausgewogenheit aufgesprungen ist. Nach zahlreichen Vorwürfen, am Übergewicht seiner Kunden Schuld zu sein, hat das Unternehmen reagiert und sein Sortiment mit Salaten und Fruchtdesserts erweitert. McDonalds wirbt heute sogar mit Informationsbroschüren für eine ausgewogene Ernährung und mehr Bewegung.

«Suisse Balance»
Wir richten uns immer bequemer ein: Autos, Rolltreppen, Lifte und Schreibtischarbeit verursachen Bewegungsmangel. Das Verhältnis der Energie, die wir uns in Form von Essen zuführen und der Energie, die wir mit körperlicher Aktivität verbrauchen, ist gestört und Übergewicht das Resultat. Das BAG führt deshalb im Rahmen des Programms «Suisse Balance», das 2002 startete, Projekte durch, die zu mehr Bewegung und ausgewogenem Essverhalten führen sollen. Es bietet beispielsweise Weiterbildungen für MuKi-Kursleiterinnen zum Thema Ernährung an oder veranstaltet in Museen Workshops für Kinder zum selben Thema.
Über zu wenig körperliche Anstrengung haben sich unsere Vorfahren keine Gedanken gemacht. Die Bedeutung der Lebensmittel war ihnen noch – wörtlich – bewusst. Zum Glück müssen wir uns heute nicht mehr überlegen, was und ob wir am nächsten Tag essen werden. Gerade diese Sicherheit birgt aber die Gefahr, dass wir das Gefühl für den natürlichen Umgang mit Esswaren und unserem Körper verlieren. Wir sind herausgefordert, die Bedeutung der Lebensmittel neu zu entdecken: als Mittel zum Leben.

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